
Ein Gastbeitrag
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20.07.2023 | 5 Minuten Lesezeit
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Geprägt durch die Theorien Alexander von Humboldts setzten es sich deutsche Naturkundler*innen im 19. Jahrhundert zum Ziel, die Welt zu erkunden und zu kategorisieren. Für sie bot der australische Kontinent eine willkommene Gelegenheit, Humboldts Methoden auf einem Terrain zu testen, das europäischen Reisenden und Forscher*innen bis dahin weitgehend unbekannt war.
Lange vor der Ankunft dieser einflussreichen Wissenschaftler*innen war der sogenannte „Fünfte Kontinent“ den ersten Bewohner*innen Australiens und der Torres-Strait-Inseln jedoch bereits bestens bekannt. Land, Himmel und Gewässer waren in den zahlreichen Indigenen Sprachen Australiens beschrieben; Indigene Wissenssysteme verliehen der natürlichen Welt Bedeutung und prägten Beziehungen zwischen Menschen und Umwelt.
Deutsche Naturforscher*innen waren mitunter stark vom Wissen Indigener Expert*innen abhängig, die bei Expeditionen als Guides, Sammler*innen, Tauschpartner*innen oder Übersetzer*innen fungierten. Ob konservierte Tiere und Pflanzen, Gesteinsproben oder Zeichnungen von Fischen und Vögeln – die umfangreichen naturkundlichen Sammlungen, die sich heute in deutschen wie australischen Museen befinden, sind nicht nur Objekte der europäischen Wissenschaft. Sie verkörpern auch Indigenes Wissen über die natürliche Welt, das jedoch lange ausgeschlossen, verkannt oder verleugnet wurde.
Wie kann dieses Wissen heute wiedergewonnen und belebt werden? Wie kann eine global vernetzte Geschichte naturkundlicher Sammlungen erzählt werden, die ihre anhaltende Bedeutung für Indigene Australier*innen in den Mittelpunkt rückt?
Seit August 2022 untersucht das Projekt „Berlins australisches Archiv“ die Sammlungen des Museums für Naturkunde, um diesen Fragen nachzugehen. Das Vorhaben wird durch das
Diese Dialoge, so eine These des Projekts, können neue Perspektiven auf naturkundliche Sammlungen eröffnen. Indigene Wissenssysteme, wie Historikerin Lynette Russell (Wotabaluk) betont, basieren nicht auf einer kategorischen Unterscheidung zwischen „Natur“ und „Kultur“. Pflanzen, Tiere oder Mineralien werden als Teil von „Country“ verstanden – von dem Land, zu dem Indigene Australier*innen und ihre Communities eine persönliche und spirituelle Verbindung haben. Das Projektteam untersucht, wie sich auf Basis Indigener Wissenssysteme und kultureller Praktiken neue Formen des Umgangs mit naturkundlichen Sammlungen in Deutschland entwickeln lassen.
Das Team australischer und deutscher Wissenschaftler*innen konzentriert sich auf Sammlungen, die von vier prominenten preußischen Naturforschern im 19. Jahrhundert zusammengetragen wurden: Wilhelm von Blandowski, Ferdinand von Müller, Richard Schomburgk und Gerhard Krefft. Gemeinsam arbeiten sie daran, Materialien, die über verschiedene australische und deutsche Museen verstreut sind, über diese nationalen Grenzen hinweg und jenseits der Trennlinien unterschiedlicher Museumsgattungen und wissenschaftlicher Disziplinen zusammenzuführen. Dabei werden die kolonialen Kontexte der historischen Entstehung und Erforschung dieser Sammlungen kritisch beleuchtet: das Team möchte verstehen, unter welchen Bedingungen sie von denjenigen Indigenen Communities und Wissenssystemen getrennt wurden, mit welchen sie historisch und kulturell verbunden sind.
Nachdem in der ersten Phase des Projekts eine Bestandsaufnahme aller mit Blandowski, Krefft, von Müller und Schomburgk verbundenen Sammlung des MfN durchgeführt wurde, arbeitet das Team daran, den historischen und kulturellen Kontext bestimmter Bestände zu rekonstruieren. Dabei können sich die Wissenschaftler*innen auf Transkriptionen der Archivbestände der historischen Arbeitsstelle stützen, die im Rahmen einer von Eva Bischoff und Diana Stört geleiteten Transkriptionswerkstatt entstanden sind. Im
Bislang konnten sich die Forschungspartner*innen ausschließlich in digitalen Projektworkshops treffen. Vom 28. August – 8. September wird das Team erstmals persönlich in Berlin zusammenkommen, um ausgewählte Bestände zu sichten und gemeinsam Strategien zu erarbeiten, um kulturell angemessene und nachhaltige Formen des Zugangs für Mitglieder Indigener Communities zu ermöglichen.
Zukünftige Projektphasen werden sich mit der Vernetzung des Indigenen Wissens beschäftigen, das in den Berliner Sammlungen enthalten ist, um seine Beziehungen zu Indigenen Geschichten und kulturellen Welten wiederherzustellen. Diese Arbeit fließt in einen praktischen Leitfaden ein, der Orientierung und Handlungsvorschläge für den Umgang mit australischen naturkundlichen Sammlungen in Berlin geben soll und Ansprechpartner*innen in den beteiligten Institutionen für zukünftige Projekte benennt. Darüber hinaus wird ein Konzept für die Präsentation der Sammlungen in einer Online‐Ausstellung entwickelt.
Projektpartner:
Das Projekt wird durch das