Digitalisierung zum Anfassen

Tina Schneider

Von Tina Schneider
12.05.2022 | 5 Minuten Lesezeit

Ein aktuelles Forschungsprojekt der Mediasphere For Nature rückt nicht nur das Thema Barrierefreiheit in den Fokus, sondern liefert zugleich ein innovatives Beispiel für Nachnutzungsmöglichkeiten unserer hausintern erschlossenen Sammlungsobjekte. Im Mittelpunkt steht dabei ein kleiner Bewohner unserer heimischen Natur: der Waldmistkäfer.

Abbildung 1: Detailfotografie Waldmistkäfer; Foto: (c) B. Schurian, MfN
Abbildung 1: Detailfotografie Waldmistkäfer; Foto: (c) B. Schurian, MfN

Das Museum für Naturkunde Berlin (MfN) verfügt über eine riesige Insektensammlung – es handelt sich um insgesamt etwa 15 Millionen Exemplare. Wie andere Sammlungsbereiche auch, wird die Insektensammlung des Museums in den nächsten Jahren systematisch erschlossen, teils auch öffentlichkeitswirksam wie in der Digitize! Ausstellung.

Innovation mit digitalen Insekten

Welche innovativen Möglichkeiten gibt es, digital erschlossene Objekte wie die aus unserer Insektensammlung zu nutzen? Damit beschäftigt sich ein aktuelles Forschungsprojekt der Mediasphere For Nature, das unter anderem gemeinsam mit dem interdisziplinären Modellbauerteam der werk5 GmbH und der auf Hard- und Software-Lösungen spezialisierten Schwesterfirma Interactive Scape durchgeführt wird.

Das Projekt fand Inspiration durch die von der MfN-Bildungsabteilung durchgeführten Tasterlebnistouren für blinde und sehbehinderte Besucher*innen. So entstand die Idee, die Kollektion der eingesetzten Tastobjekte durch ein hochskaliertes Insekten-Tastobjekt zu ergänzen. In Frage kam dafür ein Insekt, das eine weitläufig bekannte heimische Art vertritt – um möglichst vielen Zielgruppen einen direkten Bezug zum Tier und somit auch zum entwickelten Tastmodell ermöglichen zu können. Die Suche nach einem geeigneten Insekt führte zu einem bereits für das IKON-Projekt und im Mikro-CT-Labor entstandenen 3D-Scan eines Waldmistkäfers aus unserer entomologischen Sammlung (Abbildung 2).

Abbildung 2: der unter Kristin Mahlow entstandene und durch Eva-Maria Unglaube nachbearbeitete 3D Scan des Waldmistkäfers bildet eine Grundlage für das Projekt; Bild: T.Schneider, MfN
Abbildung 2: der unter Kristin Mahlow entstandene und durch Eva-Maria Unglaube nachbearbeitete 3D Scan des Waldmistkäfers bildet eine Grundlage für das Projekt; Bild: T.Schneider, MfN

Weiterentwicklung des Tast-Modell-Konzepts

Nach der bereits gesammelten Erfahrung mit der Entwicklung eines Tast-Krokodils wird für das neue Tastmodell sowohl eine inhaltliche als auch technologische Weiterentwicklungsstufe angestrebt. Wie beim bereits 2019 entwickelten Tast-Krokodil soll erneut eine sensorische Oberfläche zum Einsatz kommen, durch deren Berührung via Kopfhörer Audioinhalte zur jeweils berührten Stelle ausgelöst werden. Diese Art inklusives Modell eignet sich besonders für sehbehinderte Menschen und ermöglicht das selbständige Entdecken. Doch auch sehende Menschen profitieren von der Gestaltung nach dem sogenannten “Zwei-Sinne-Prinzip”. Danach werden mindestens zwei der drei Sinne „Hören, Sehen und Tasten“ angesprochen, was eine erleichterte Informationsaufnahme ermöglicht.

Abbildung 3: Suche nach Sensorik-Punkt im Maul des Tast-Krokodils; Foto: Hwa Ja Götz, MfN
Abbildung 3: Suche nach Sensorik-Punkt im Maul des Tast-Krokodils; Foto: Hwa Ja Götz, MfN

Im Gegensatz zum Krokodil-Modell, das nur mit wenigen statischen Sensorik-Punkten versehen ist, soll beim neuen Modell fast die gesamte Oberfläche mit Sensorik ausgestattet werden. Dies ermöglicht eine flexiblere Gestaltung der Audioinhalte, die zudem über ein nachhaltiges Content-Management-System selbst nach Fertigstellung des Modells noch geändert oder erweitert werden können.

Einbindung einer Testgruppe und erste Modell-Planungen

Der Projektplanungsprozess beinhaltet eine zusätzliche Komponente: eine kleine Gruppe sehbehinderter Teilnehmerinnen testet im Rahmen punktuell stattfindender Workshops Zwischenergebnisse des Projekts und trägt durch ihr Feedback zum optimierten finalen Modell bei. Dabei soll am Ende des Projektprozesses nicht ein marktreifes Produkt stehen, sondern ein Demonstrator, dessen neuwertige Technologie sowohl bei hauseigenen Tasterlebnistouren als auch auf Fachmessen zum Einsatz kommen kann. Als begreifbare Machbarkeitsstudie kann der Demonstrator auf Messeveranstaltungen sowohl bei Institutionen als auch bei Messebaufirmen neue Anreize wecken, barrierefreie Modelle in eigenen Planungen zu berücksichtigen.

Abbildung 4: Arbeiten am 3D-Modell des Waldmistkäfers bei werk5; Foto: werk5 GmbH
Abbildung 4: Arbeiten am 3D-Modell des Waldmistkäfers bei werk5; Foto: werk5 GmbH

Erste Besprechungen zur Einbindung der Testgruppe und der Erarbeitung des Human-Computer-Interface Konzepts für das Modell verliefen parallel zum Beginn der Nachbearbeitung des durch das MfN bereitgestellten 3D-Hohlkörpermodells bei werk5 (Abbildung 2). Hierbei mussten einige im 3D-Modell vorhandene Löcher geschlossen sowie Oberflächen geglättet und filigrane Stellen teils minimal verstärkt werden, um das Modell für den später anstehenden Fräs- und Druckvorgang vorzubereiten.

Abbildung 5: Grafik mit Darstellung zum geplanten Größenverhältnis Käfer/Nutzerin; Grafik: werk5 GmbH
Abbildung 5: Grafik mit Darstellung zum geplanten Größenverhältnis Käfer/Nutzerin; Grafik: werk5 GmbH

Nach Rücksprache mit der Bildungsabteilung des Museums einigte man sich auf eine Gesamtlänge von ungefähr 40 cm (Abbildung 5). Dies entspricht in etwa der Größe einiger aus unserer Ausstellung bekannten Insektenmodelle von Alfred Keller – welche jedoch allesamt nicht zum Anfassen geeignet sind. Die Länge von 40 cm ist ausreichend, um selbst feinere Details gut wahrnehmen zu können. Ein Modell dieser Größe ermöglicht außerdem einen einfach handhabbaren Transport. Dies stellt einen großen Vorteil dar, da das Modell zum häufigen Einsatz an unterschiedlichen Orten gedacht ist. 

Bau eines Prototyps

Bereits in der frühen Phase der Projektplanung wurde ersichtlich, dass vor der Fertigung des finalen Tastkäfer-Modells ein Prototyp nötig sein wird, um rechtzeitig Tests mit Sensorik und Audiofeed durchführen zu können. Der schemenhafte, noch ohne filigrane Körperteile ausgestattete Prototyp (Abbildung 6) ist nicht nur punktuell, sondern bereits über die komplette Oberfläche verteilt mit Sensorik bestückt.

Abbildung 6: Prototyp des Waldmistkäfer-Modells; Foto: werk5 GmbH
Abbildung 6: Prototyp des Waldmistkäfer-Modells; Foto: werk5 GmbH

Auch eine Vorabversion von thematisch auf die Körperteile des Käfers zugeschnittenen Audioaufnahmen wurde vorbereitet, um die Tast-Navigation über das Modell zu erproben. Erste Tests und Iterationsschleifen wurden durch die Teams von werk5, Interactive Scape sowie durch Ellen Schweizer als Expertin für barrierefreies Design durchgeführt.

Abbildung 7: Prüfen des Sensorik-Testmodells; Foto: werk5 GmbH
Abbildung 7: Prüfen des Sensorik-Testmodells; Foto: werk5 GmbH

Workshop mit Testgruppe

Nach interner Testphase war der Prototyp Mitte Dezember 2021 bereit für die ersten Workshops mit sehbehinderten Testpersonen (Abbildung 8). Gesammeltes Feedback zur Steuerung / Bedienung sowie Ergänzungs- und Änderungswünsche, etwa in Hinblick auf Audioinformationen zum Käfer, waren äußerst hilfreich und fließen seither in weitere Entwicklungsschritte mit ein.

Abbildung 8: Sensorik-Testmodell wird von einer blinden Testerin ertastet und geprüft; Foto: Ellen Schweizer
Abbildung 8: Sensorik-Testmodell wird von einer blinden Testerin ertastet und geprüft; Foto: Ellen Schweizer

Audiotexte und erste Projektpräsentationen

Seit Anfang 2022 werden verstärkt die Feinregulierung der Sensorik bearbeitet sowie diverse Materialtests durchgeführt, um die finale Auswahl an Werkstoffen für das Käfermodell zu treffen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Festlegung der endgültigen Themen für die Audio-Texte, welche Nutzer*innen des Käfermodells durch die Berührung bestimmter Oberflächenbereiche auslösen. Expert*innen aus Bildungsabteilung und Entomologie des Museums begleiten die Gestaltung und wissenschaftliche Prüfung der Audiotexte.

Abbildung 9: Impression vom Deutsch-Österreichischen Innovationsforum in Wien; Foto: werk5 GmbH
Abbildung 9: Impression vom Deutsch-Österreichischen Innovationsforum in Wien; Foto: werk5 GmbH

Das Projekt, welches sich bereits seit Mitte 2021 in der Planung befindet, geht nun in die „heiße Phase“ über, in der die Modellkonstruktion unmittelbar bevorsteht. Auf Einladung der Deutschen Handwerkskammer in Österreich konnten werk5 und Interactive Scape im Rahmen des Deutsch-Österreichischen Innovationsforums in Wien (Abbildung 9) und bei der Ars Electronica in Linz das gemeinsame Kooperationsprojekt bereits einem Fachpublikum vorstellen.

In einem weiteren Blogbeitrag werden wir mit Fotos aus der Modellbau-Werkstatt über die nächsten Projektfortschritte berichten.