
Ein Gastbeitrag
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10.12.2021 | 15 Minuten Lesezeit
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In den warmen Meeresböden dieser Welt leben einzigartige Räuber. Trotz langsamen Kriechens jagen sie mit giftigen Stacheln nach Beute, und mit allerlei Punkten, Streifen und Fraktalen bemalen sie ihr Haus. Wir reden über die Kegel- und Olivenschnecken, die Menschen seit Jahrtausenden bis heute faszinieren.
In diesem Blogartikel werden wir diesen Mustern und noch vielem mehr auf die Spur gehen. Wir werden zeigen, wie wir unsere eigene Schnecken-Musikbox gebaut haben, was wir dabei über Genetik, Biologie und Zellchemie gelernt haben und wie wir Methoden aus der Musiktheorie und Informatik angewandt haben, um die Musik der Meeresschnecken hörbar zu machen. Alles fing mit einer verträumten Vorstellung an…
Wie klingen eigentlich Schneckenmuster?
Wie bei den Hörnern des Steinbocks oder in unseren Haaren arbeiten am Rand der Schneckenschale pausenlos Zellen daran, neues Gewebe hinzuzufügen, damit die Schnecke spiralförmig wachsen kann. Technisch wenden wir ähnliche Verfahren an: Flicken von Teppichen, Inkjet Drucker, alte Lochkarten von Computern, das Lesen von Partituren und sogar das Zupfen der Metallstifte an Musikboxen. Eine Schnecke als Herzstück einer Musikbox zu verwenden, fanden wir besonders interessant. Wir konnten uns fast vorstellen, welche Musik die Schnecke ganz langsam beim Wachsen macht.
Im Rahmen von
Doch als Erstes wollten wir den Mechanismus hinter der Entstehung dieser Muster verstehen. Wie können Millionen von Zellen sich so koordinieren, dass sie so komplexe Muster erstellen?
Von Genen zu Mustern: Wie kommt die Vielfalt an Schneckenschalen zustande?
Übrigens, auch wenn es im umgangssprachlichen Sprachgebrauch gerne verwechselt wird, streng genommen sind die Exemplare des MuShell Projekts keine Muscheln (Bivalvia), sondern Schnecken (Gastropoda). Zwar gehören beide Klassen dem Tierstamm der Weichtiere (Molluska) an, jedoch unterscheiden sie sich u.a. dadurch, dass Muscheln zweiklappig sind. Eine genetische Veränderung ist dafür zuständig, dass in der frühen Entwicklung zwei Absätze für die Weiterbildung der Schale des Organismus entstehen. Ähnlich können auch genetische Mutationen die Anfangskonzentration und die Produktionsleistung von Boten- und Pigmentstoffen beeinflussen. Damit diese groben Veränderungen eine komplexe Mustervielfalt erzeugen, nur durch lokale Kommunikation zwischen den Zellen, eignen sich sogenannte Turing Mechanismen besonders. Diese entstehen aus mehreren oszillierenden Verhältnissen zwischen Botenstoffen, die sich gegenseitig beeinflussen und nur indirekt die Pigmentierung beeinflussen.
Von der Vielzahl an Mustern, die in dem Buch “The Algorithmic Beauty of Sea Shells” von Hans Meinhardt mathematisch beschrieben werden, möchten wir uns an dieser Stelle der Oliva porphyria widmen, da sie eines der spannendsten Muster zeigt. Das Muster der Oliva porphyria ist geprägt durch schräge Linien, welche durch die Aktivierung und Inhibition der Pigmentproduktion entstehen. Es werden pigmentproduzierende Zellgruppen aktiviert, die wiederum ihre benachbarten Zellen aktivieren, sodass diese nach etwas Verzögerung auch Pigmente produzieren. So entsteht eine zeitliche Aufzeichnung der wandernden Welle der Pigmentproduktion entlang der pigmentproduzierenden Manteldrüse am Wachstumsrand. Diese Reaktionskette geht nur in eine Richtung, da die Zellen nach ihrer Aktivierung in eine Refraktärzeit eintreten, in der sie sich erholen müssen.
Spontane Aktivierungen kleinerer Zellgruppen können auf beiden Seiten benachbarte Zellen aktivieren. Nun laufen zwei Linien in entgegengesetzte Richtung. Treffen zwei Linien aufeinander, löschen sie sich gegenseitig aus, da diese Regionen durch die jeweils andere Linie bereits in die Refraktärzeit versetzt wurde. Es entsteht die V-Form in den Mustern.
Dass den wellenförmigen Linien ein globales System zugrunde liegt, ist daran ersichtlich, dass, wenn es durch die versehentliche gegenseitige Aufhebung der Wellen an einer Stelle zu einer größeren weißen Fläche (1) kommt, an einer anderen Stelle dafür eine höhere Wellen-Frequenz auftritt, welche zu den dunklen Stellen (2) der O. porphyria führt.
Die Verzweigung ist das häufigste wiederkehrende Muster der O. porphyria. Sie basiert auf dem Auftreten von rückwärts laufenden Wellen, welche sich also in gerade refraktär gewordenen Gebieten ausbreiten (3). Aber geht das überhaupt? Anhand der V-Form geprägten Muster der O. porphyria können wir ja eindeutig sagen, dass diese Schnecke auch Refraktärzeiten hat. Hier lässt sich vermuten, dass ein zugrunde liegendes System zum Tragen kommt, welches die Anzahl der Pigmentwellen auslösenden Prozesse kontrolliert. Einen Erklärungsansatz bietet Meinhardt: die Pigmentablagerung in der Schneckenschale könnte als eine Art Abfallsystem betrachtet werden und dadurch, dass durch jede Annihilation die Anzahl der wandernden Pigmentwellen kleiner wird, scheint es logisch, dass dieser Prozess durch ein übergreifendes System geregelt ist, welches die Abfallentsorgung konstant hält. Dieses System ermöglicht dann eine höhere Wahrscheinlichkeit der Verzweigung, um den Verlust der wandernden Wellen zu kompensieren, sodass es zur gleichzeitigen Verzweigung der Linien an mehreren Stellen kommt.
In der Regel ist das Erscheinungsbild von Organismen eng mit einem evolutionären Wettbewerbsvorteil verknüpft. Die Maxime der Evolutionstheorie trifft auch auf die Reliefstruktur von Meeresschnecken zu, allerdings kann sie die Vielfalt an Mustern der Schneckengehäuse nicht erklären. Hierzu schreibt Hans Meinhardt:
„[…] es ist anzunehmen, dass kein hoher Selektionsdruck auf der Art des Musters liegt. Die Vielfalt deutet darauf hin, dass das Muster drastisch verändert werden kann, ohne die Spezies zu bedrohen. Die Natur darf spielen.“
—Hans Meinhardt
Prozess: Wie wurden die Schneckenmuster hörbar gemacht?
Schneckenauswahl
Es wurden dreizehn Schnecken aus den Familien der Kegelschnecken (Conus) und der Olivenschnecken (Oliva) ausgewählt.
Zunächst haben wir Kegelschnecken ausgewählt, deren Schalen geeignete Muster aufweisen. Begeistert von der Diversität der Schneckenmuster haben wir zusätzlich auch Schnecken mit weniger komplexen Streifen und chaotischen Mustern ausgewählt.
Die große Sammlung des Museums für Naturkunde, die eine umfassende Artenvielfalt sowie auch verschiedene Exemplare der gleichen Spezies beherbergt, war ausschlaggebend, um die geeignetsten Muster zum photogrammetrischen Scannen auswählen zu können.
Photogrammetrie (AgisoftMetashape)
Photogrammetrie ist ein Verfahren, in dem die Lage und Form eines Objekts durch das Zusammenfügen von Einzelaufnahmen in speziellen Programmen bestimmt werden kann. Ähnlich wie wir mit unseren Augen durch Triangulation Räumlichkeit wahrnehmen können, vergleicht das Programm Agisoft Metashape pro Schnecke zwischen 40 und 150 Fotos, die von verschiedenen Perspektiven aufgenommen wurden. Durch charakteristische Punkte, sogenannte Keypoints, welche in mehreren Fotos erkannt werden, wird das 3D Modell der Schnecke erstellt.
Praktisch werden die Schnecken mithilfe einer Drehbühne rundum aus mehreren Winkeln fotografiert. Dabei ist es wichtig, Spiegelungen zu vermeiden und bei der Drehung der Schnecken einen gleichtönigen Hintergrund zu verwenden, damit das Programm nur Keypoints der Schnecke aus den verschiedenen Perspektiven erkennt. Aus den Bildern werden dann 3D-Objekte mit der Textur der Schnecken erstellt.
Dieser Teil erfordert am meisten Rechenleistung, die daraus entstehenden 3D-Modelle können aber dann beliebig weiterverarbeitet werden und werden 2022 auch auf das Datenportal des Museums für Naturkunde hochgeladen.
3D Modellierung und Projektion (Houdini und Blender)
Die Farbtextur des 3D Modells wird auf einen Zylinder um die Schnecke herum projiziert, damit diese dann in ein flaches 2D Bild ausgerollt werden kann. Dabei werden alle Schnecken in die gleiche horizontale Orientierung gebracht, sodass auch der Schnitt der Zylinder-projizierten Textur an der Lippe der Schnecke stattfindet, die keine Muster aufweist. Es entsteht eine quadratische PNG-Bilddatei.
Bildbearbeitung (GIMP)
Mit Hilfe des Bildbearbeitungsprogramms GIMP wurden auf das Bild Kantenerkennungs-Filter angewandt, um die Punkt- und Streifenmuster unabhängig von ihrer Farbe und ohne Schrammen oder Verfärbungen des Hintergrundes der Schale hervorzuheben. Dieses Bild wird dann mit der Schwellenwert-Funktion in ein Schwarz-Weiß-Bild umgewandelt, um einen maximal klaren Kontrast zu erhalten, der es im nächsten Schritt erleichtert, die Konturen der Punkte zu erkennen. Interessante Teile des gesamten Musters wurden ausgewählt und ausgeschnitten, da das gesamte Muster zu viele Punkte (Noten) für einen klaren Klang enthält. Wir erhalten somit eine Partitur für das Muster der Schnecke.
Computer Vision (openCV in Python)
OpenCV ist eine Open Source Bibliothek, die auch für die Programmiersprache Python mehrere unterschiedliche Algorithmen für computerbasiertes Sehen (= computer vision) enthält. Die in unserem Python-Projekt verwendeten OpenCV Algorithmen erlaubten es uns, Strukturen, wie z. B. Punkte, in den Eingabe-Bildern automatisch durch das Programm erkennen zu lassen. Es wird dabei eine Liste aller Punkte und ihrer Koordinaten erstellt, indem um jeden Punkt ein Rahmen (= bounding box) gezeichnet wird. Die x- und y-Koordinaten des Zentrums der umrandenden Box werden jeweils als die Tonhöhe für eine zu einem bestimmten Zeitpunkt generierte Note übernommen. Andere Eigenschaften, wie zum Beispiel die vertikale Länge der Box, bestimmen die Zeitdauer der jeweils generierten Note.
Anpassung der Noten an eine Tonleiter (Numpy in Python)
Würden die Pixelkoordinaten des Bildes direkt als Noten übernommen werden, würden fast alle Noten von der geringen Anzahl an Tönen innerhalb einer Tonleiter abweichen. Wir wissen jedoch, dass verschiedene Kulturen mit Rücksicht auf Harmonisierung und andere akustische Effekte jeweils verschiedene Tonleitern verwenden, die aber immer nur einen kleinen Teil der möglichen Noten in einer Oktave darstellen. Wir entscheiden uns deshalb, die x-Koordinaten (Tonhöhe) der Schnecken Partitur so anzupassen, dass sie sich mit der Tonhöhe einer der Noten in der Tonleiter einrastet. Durch das Einrasten der y-Koordinaten (Zeit) in weniger möglichen Zeitschritten können wir Muster, die mehrmals näherungsweise zeitgleich auftauchen, als Akkorde vertonen.
In Anlehnung an die Weiterverbreitung von Kegel- und Olivenschnecken wurden bei der Vertonung der Schnecken unterschiedliche Tonleitern, die über das europäische heptatonische System hinausgehen, berücksichtigt. Ausgewählt wurden folgende Tonleitern:
Balafon*
Diese Tonleiter wurde empirisch aus der Stimmung von Balafon Instrumenten in der Patna Region hergeleitet.
Asmaroneng (Pelog)*
Cirebonesische Stimmung der Pelog Tonleiter aus Java. Pelog Tonleitern zeigen eine hohe Variation zwischen verschiedenen Regionen Indonesiens, unterteilen jedoch meistens die Oktave in 9 Abschnitte.
Western 12 TET A Minor*
Die Moll Tonleiter, abgeleitet von der griechischen Tonleiter des Äolischen Modus hat im Vergleich mit der Dur Tonleiter einen melancholischen Charakter. Es ist jedoch noch umstritten, ob dieses Gefühl biologisch verankert ist oder nur kulturell erlernt ist.
Arabic Rast on C**
Arabische Tonleitern erstellen sich aus 24 TET Noten, sodass die Rast Tonleiter, wenn auch aus derselben Anzahl bestehend wie die Dur Tonleiter, an zwei Stellen um einen Viertelton verschoben ist, die es im westlichen System nicht gibt.
*erhoben auf Leimma. A browser-based tool for exploring, creating, hearing, and playing microtonal tuning systems. Created by Khyam Allami and Counterpoint.
** erhoben aus der Applikation Scala
Umwandlung in MIDI Datei (MIDIutil in Python)
Die tabellarisch erfassten Koordinaten der Punktmuster werden mit dem MIDIutil Python Paket in eine MIDI-Datei umgewandelt.
MIDI-Dateien besitzen nur einen Umfang von 127 Noten und spiegeln somit den Standard der westlichen Industrie elektronischer Musikproduktion wieder. Durch die Auswahl von nicht westlichen Tonleitern kam es somit zu einem Übersetzungsproblem der Punktkoordinaten in das Format von MIDI-Dateien, welches programmatisch versucht wurde zu lösen.
Instrumentierung (GarageBand)
Im letzten Schritt ist der größte Interpretationsspielraum enthalten, da die erhaltenen MIDI-Dateien in GarageBand nach subjektivem Geschmack mit Instrumenten und Modulationen ausgestattet wurden. Dabei wurden sowohl traditionelle als auch moderne synthetische Klänge benutzt, die das Muster der Muschel künstlerisch und pädagogisch am besten wiedergeben können. Bei feinen Mustern mit einer hohen Punktdichte eignen sich eher Staccato-Klänge, bei gröberen Mustern eher fließende Töne.
Endresultat: Musikvideos von 4 ausgewählten Schnecken
Aufbau der Musikboxen
Die entstandenen Kompositionen der Schnecken wurden für die Ausstellung Soft Encounters an der Floating University Musikboxen angefertigt, in denen sich ähnliche Conus Spezies in Abstimmung mit der Musik drehen konnten. Die in jedem Moment gespielten Noten wurden mit LEDs vorne an der Musikbox angezeigt.
Unter
Fazit
Bei der Ausstellung Soft Encounters wurden die Schnecken-Spieldosen im kleineren Rahmen mit drei von uns erworbenen Kegelschnecken ausgestellt und stießen auf großes Interesse und viele Nachfragen zur Weiterverfolgung des Projekts.
So wurden die Klänge einer Conus nussatella bereits in einer binauralen Jam-Session verarbeitet. Die Komposition Conus imperialis und die Komposition Conus interruptus waren der Ausgangspunkt für eine performative Auseinandersetzung mit der erfolgreichen evolutionsbedingten Anpassungsfähigkeit der Schnecken. In der Performance Snail Trail erforscht Christel Clerc, studentische Assistentin am Museum für Naturkunde, eine nicht-anthropozentrisch choreographische Perspektive auf das Thema “Zuhause sein” und bedient sich von Elementen des zeitgenössischen und transdisziplinären physischen Theaters. Die Inszenierung entstand im Rahmen von SHADOWLIGHT, einer zweimonatigen intensiven Auseinandersetzung mit Licht und Schatten mit
Auch eine Anfrage durch eine Musikerin nach den Klängen der Schnecken, um diese neu zu interpretieren, ist noch offen.
Obwohl auch uns die erstaunlichen Klänge der Schnecken begeisterten, wurde uns im Prozess ihrer Vertonung auch die Limitationen bewusst, die die Werkzeuge digitaler Musikproduktion aufweisen. Die 127 verschiedenen Stufen einer MIDI Datei werden von den meisten DAWs (Digital Audio Workstations) als Noten des westlichen 12 TET Systems eingelesen. Dieses Standardverhalten ist nur mit spezialisierten Plugins für mikrotonale Musik zu verändern und hat uns dazu gezwungen, die Tonleitern an das 12 TET System anzupassen und zeigt, wie ausgerichtet die Konzeption auch moderner Musikproduktion ist.
Zuletzt möchten wir uns herzlich bei der Mediasphere for Nature bedanken, die es uns ermöglicht hat, von der vielfältigen Sammlung an Exemplaren des Museums für Naturkunde die geeignetsten für die Digitalisierung auszuwählen.